
Über Leistungsdruck, Verblödung durch Dauerreize und den Verlust von Maß, Zeit und Orientierung**
In den letzten Jahren ist mir und vielen Menschen in meinem Umfeld immer häufiger etwas aufgefallen: Kinder wirken erschöpfter, unsicherer und gleichzeitig überreizter als früher. Gespräche mit Freunden, Familienmitgliedern, Eltern, Lehrern und Erziehern kreisen immer wieder um ähnliche Themen. Man hört es auf Spielplätzen, in Schulen, in Vereinen, im Alltag.
Kinder scheinen immer öfter „nicht zu genügen“. Nicht schnell genug, nicht weit genug, nicht passend genug. Und erstaunlich früh wird daraus ein Problem gemacht.
Ein Kind ist ein Jahr alt und läuft noch nicht.
Ein anderes ist fünf und kann keine Schleifen binden.
Ein Neunjähriger tut sich mit dem kleinen Einmaleins schwer.
Und sofort entsteht diese unterschwellige Frage: Stimmt etwas nicht?
Muss gefördert werden? Nachgeholfen? Diagnostiziert? Korrigiert?
Dabei wird selten eine viel grundlegendere Frage gestellt:
Wenn wir zwei Erwachsene vergleichen würden könnten sie exakt dasselbe, im selben Tempo, auf dieselbe Weise? Natürlich nicht. Unterschiede akzeptieren wir bei Erwachsenen als selbstverständlich. Bei Kindern hingegen scheint diese Gelassenheit verloren gegangen zu sein.
Wenn Entwicklung plötzlich als Defizit gilt
Was mir immer wieder begegnet durch Erzählungen, Beobachtungen, Gespräche ist ein erschreckendes Muster: Kinder definieren sich früh über das, was sie nicht können.
Da ist der Vierjährige, der wunderbar spricht, Geschichten erfindet, Gedanken teilt, mit Begeisterung hilft und sogar Kuchen backt. Doch er malt keine „richtigen“ Menschen. Er kennt bestimmte Zahlen noch nicht. Und so lernt er, oft ganz leise, ganz nebenbei: Ich bin falsch.
Kinder ziehen ihre Schlüsse nicht aus Statistiken, sondern aus Blicken, Kommentaren, Vergleichen.
Und irgendwann sagen sie Sätze wie:
„Ich bin dumm.“
„Ich kann gar nichts.“
Solche Sätze entstehen nicht aus Bosheit, sondern aus einem System permanenter Bewertung. Gut gemeint aber oft verheerend.
Hier werden Samen gesät. Samen von Selbstzweifel, Anpassung, Angst. Und viele Erwachsene merken nicht, was sie damit in kleinen Kinderseelen auslösen.
Wachsen ist kein Wettrennen
Wachsen bedeutet nicht, möglichst früh möglichst viel zu können.
Wachsen bedeutet, die eigene innere Größe zu entwickeln, Schritt für Schritt, im eigenen Tempo.
Der Gedanke von Jochen Mariss bringt das auf eine einfache, aber tiefe Ebene:
„Wachsen heißt nicht, möglichst schnell möglichst groß zu werden. Wachsen heißt: ganz behutsam und allmählich die uns eigene und angemessene Größe zu entwickeln, bis wir den Himmel in uns berühren.“
Doch genau diese Behutsamkeit fehlt zunehmend.
Social Media, Dauerbeschallung und die schleichende Verblödung
Ein weiterer Punkt, der nicht ignoriert werden kann, ist der massive Einfluss digitaler Medien. Kinder wachsen heute mit Smartphones, Tablets und sozialen Netzwerken auf, oft ohne echte Begleitung.
Was dabei verloren geht, ist nicht nur Konzentration, sondern Erfahrung.
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Erfahrung durch Scheitern
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Erfahrung durch eigenes Tun
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Erfahrung durch Langeweile
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Erfahrung durch körperliche Bewegung
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Erfahrung durch echte Begegnung
Stattdessen erleben viele Kinder eine Dauerbeschallung aus Clips, Reizen, Bewertungen und künstlicher Aufmerksamkeit. Begeisterung wird ersetzt durch kurzfristige Dopamin-Kicks. Tiefe durch Oberflächlichkeit. Kreativität durch Konsum.
Kinder werden nicht dümmer, weil sie weniger könnten
sie werden überfordert, unterfordert und gleichzeitig falsch gefordert.
Kinder brauchen Begeisterung, nicht Optimierung
Was Kinder wirklich wachsen lässt, ist Begeisterung.
Das Leuchten in den Augen, wenn sie etwas entdecken dürfen.
Das Gefühl, etwas selbst zu schaffen.
Das Erleben von Sinn.
Doch Begeisterung braucht Zeit. Sie entsteht nicht zwischen zwei Push-Nachrichten. Sie entsteht durch Beziehung, durch Vorbilder, durch echtes Interesse.
Förderung bedeutet nicht, Kinder an Normen anzupassen.
Förderung bedeutet, ihre Stärken zu erkennen und ihnen Raum zu geben.
Gesellschaftliche Verwirrung und wo Orientierung verloren geht
Hinzu kommen gesellschaftliche Konflikte, die bis in Kinderzimmer hineinreichen. Identitätsfragen, politische Polarisierung, Sexualisierung, Geschlechterdebatten Themen, die Erwachsene oft selbst nicht mehr einordnen können, werden Kindern früh zugemutet.
Ob man an Gott glaubt oder nicht: Die Frage bleibt, wo sind die Werte, die Halt geben?
Was bedeutet Liebe, Verantwortung, Familie, Verlässlichkeit?
Was bleibt, wenn alles relativ wird?
Familien unter Druck
Dass heute jede dritte Ehe scheitert, ist keine moralische Anklage aber eine Realität, die Kinder betrifft. Trennungen, Konflikte, Sprachlosigkeit hinterlassen Spuren. Kinder tragen Spannungen, Loyalitätskonflikte und Unsicherheiten oft still in sich.
Viele lernen früh zu funktionieren, statt zu fühlen.
Was wir uns fragen sollten
Wem dient ein System, das Kinder früh unter Druck setzt?
Wem dient eine Gesellschaft, die Leistung über Würde stellt?
Wem dient eine Entwicklung, in der Erfahrung durch Bildschirmzeit ersetzt wird?
Diese Fragen sind unbequem aber notwendig.
Was Kinder wirklich brauchen
Kinder brauchen keine perfekten Lebensläufe.
Sie brauchen präsente Erwachsene.
Menschen, die zuhören.
Die Fehler eingestehen.
Die Grenzen setzen.
Die Orientierung geben.
Sie brauchen Räume, in denen sie Kinder sein dürfen.
Und eine Gesellschaft, die den Mut hat, langsamer zu werden.
Ein stiller Appell
Dieser Text will nicht anklagen.
Er will erinnern.
Was machen wir mit unseren Kindern?
Und was wollen wir ihnen wirklich mitgeben?
Nicht Geschwindigkeit, sondern Tiefe.
Nicht Anpassung, sondern Würde.
Nicht Dauerreiz, sondern Begeisterung.
Nicht Angst, sondern Vertrauen.




































