
“Die Symbolfigur des Todes ist mir in der Klinik während meiner Psychose zweimal begegnet.
Das erste Mal habe ich eine ältere Mitpatientin für den Tod gehalten.
Sie hatte graue, schulterlange Haare, war eher ruhig und immer freundlich.
Während einer Psychose ist es ganz klassisch, dass man anderen Mitmenschen bestimmte Rollen und Figuren zuordnet.
Im Frühstadium meiner Psychose hatte ich wahnsinnige Angst vor dieser Frau und ging ihr immer aus dem Weg, was verständlich erscheint, da ich wirklich dachte, sie wäre so eine Art weiblicher Sensenmann.
Ich wollte mit dem Thema Tod und Sterben nichts zu tun haben und war nicht bereit mich damit auseinanderzusetzen.

Als ich dann einige Wochen später die zweite Psychose hatte und auf einer offenen Station war, schrieb ich einem jungen Mitpatienten die Rolle des Sensenmannes zu.
Er hatte eine breite, eher mollige Statur und schwarze, längere Haare. Auch er strahle stets Ruhe aus.
Dass sich in diesen Wochen, seit ich in der ältere Frau den Tod zu erkennen glaube, in mir viel getan hatte, zeigte sich daran, dass ich vor dieser neuen Symbolfigur des Todes keine Angst mehr hatte.
Ich suchte im Gegenteil den Kontakt und entwickelte ein freundschaftliches Verhältnis zu dem Mitpatienten, von dem ich annahm, er repräsentiere den Tod.
Einmal waren wir beide im Raucherzimmer und es entwickelte sich folgender Dialog zwischen uns:
Ich sagte zu ihm: „Ich weiß, ich rauche zu viel, bitte tue mir den Gefallen und lass mich nicht nicht mit 40 oder noch früher an Lungenkrebs sterben.“.
Er antwortete: „Nun, es ist zu früh, sich darüber Sorgen zu machen, aber das Laster des Rauchens sei dir mal verziehen.“
Ich darauf: „Gut, meine Oma ist jetzt 85, so alt will ich gar nicht werden.“.
Er: „Das kannst du dir nun mal nicht aussuchen.
Wobei…bei dir ist das mit Vorsicht zu genießen, bei deinen gewissen Tätigkeiten; du weißt, ich meine deine Suizidversuche.“
Ich musste schlucken: „So etwas mache ich nie wieder.
Ich will eines natürlichen und friedlichen Todes sterben. Bitte lass mich keine Schmerzen haben.“
Daraufhin klopft mir der Tod auf die Schulter und meint:
„Also wegen des Rauchens mach dir mal keine Sorgen, wir sehen uns wieder, wenn du dein Leben gelebt hast.“
Daraufhin gehen wir einträchtig zusammen aus dem Raucherzimmer und schreiten wie alte Freunde den Gang entlang und suchen unsere Zimmer auf.

Als ich nicht mehr psychotisch war, habe ich den Jungen, den ich für den Tod hielt, wieder gesehen, da er immer noch auf meiner Station war.
Da hielt ich ihn natürlich nicht mehr für den Tod und seine Gegenwart war mir sehr peinlich, da sie mich an unser Gespräch im Raucherraum erinnerte.
Ich frage mich heute noch, ob er meinen Zustand bemerkte und einfach gut mitspielte.
Habe ich das komplette Gespräch halluziniert?
Hat er sich über mich lustig gemacht?
Ich weiß es nicht. Auch wenn es auf meine eigene verquere Weise geschah.
Ich konnte mit dem Thema Tod Frieden schließen.
Hatte ich am Anfang Angst und wollte weglaufen, wahrscheinlich auch weil ich ja den Tod so oft schon herbeigesehnt hatte und doch noch nicht bereit war für ihn, so konnte ich mich mit ihm versöhnen und habe ihn als das erkannt, was er ist:
Ein ruhiger Begleiter unseres Lebens, der immer an unserer Seite ist, mal präsenter, mal im Hintergrund, doch da sein wird er immer, ob man es nun will oder nicht.
Etwas Böses will er, der Tod, sicher nicht.
Er tut nur seine Aufgabe. Und wer ihn als Freund und nicht als Feind sieht, vor dem man weglaufen muss, der wird die Angst vor ihm verlieren.
Es muss ihn geben, den Tod.
Ohne Tod kein Platz für Geburt.
Ohne Geburt kein Leben. Also ohne Tod kein Leben.
In meiner Familie und meinem Bekanntenkreis sind schon relativ viele Menschen gestorben wie auch eine Oma, die Opas und eine Großtante.
Sie alle waren alt und ihr Verlust schmerzte, aber sie hatten ihr Leben gelebt. Vor relativ kurzer Zeit sind aber auch zwei junge Freunde an Krebs gestorben.
Sie standen noch am Anfang ihres Lebens.
Wenn man einen solchen Verlust erleidet, hadert man mit Gott oder einer höheren Macht oder aber man lehnt den Glauben daran völlig ab und verfällt in eine tiefe Überzeugung, alles sei Zufall und sinnlos.
Und war mein Schmerz über diese Verluste auch groß, so kann ich nicht erahnen, wie es ihren Eltern, Geschwistern und noch engeren Freunden ergangen ist.
Der Tod ereilt jeden von uns. So will es die Natur.
Wenn er aber einen jungen Menschen aus dem Leben reißt oder jemand, der einem sehr nahe steht, will man den Satz „Ohne Tod kein Leben“ verständlicherweise nicht hören.
Ich weiß auch nicht, wie ich jetzt damit fertig werden würde, wenn der Tod mir einen geliebte Menschen entrisse. Ist es egoistisch zu hoffen, vor den Menschen zu sterben, die man am meisten liebt, um nicht ihren Tod betrauern zu müssen?
Natürlich ist dies auch nicht die Lösung, sondern nur eine Verlagerung des Leides.
Wir müssen uns also mit dem Thema Tod aussöhnen.
Ein Glaube an eine höhere Macht, wie immer ich sie mir vorstelle oder interpretiere, kann dabei helfen.
Wenn wir auf ein Leben nach dem Tod, auf Wiedergeburt, auf ein Art Paradies oder einfach auf eine eigene spirituelle Vorstellung, was nach dem Tod mit uns geschieht, vertrauen, dann erfahren wir Trost und Halt in dunklen Zeiten.
Der Glaube, geliebte Menschen, Tiere, Pflanzen oder auch Orte und Zeiten nicht mit dem Tod endgültig zu verlieren, sondern ihnen in transformierter Art und Weise wieder zu begegnen und mit allem in einem großes Ganzes verbunden zu sein, kann die Angst vor dem biologischem Tod lindern und und ihn als einen notwendigen Begleiter erscheinen lassen.
Ich habe mich lange geweigert, an Gott zu glauben und Religionen eine Bedeutung beizumessen. Aber was heißt lange?
Manchen Menschen ist ihr ganzes Leben lang leider ein spirituelles Erwachen verweigert, weil sie ihre Lebenszeit überwiegend mit falschen Idealen und der Jagd nach Konsum und Oberflächlichkeiten verbringen.
Aber ist diese Wertung nicht auch anmaßend?
Wenn man daran glaubt, dass man so lange wiedergeboren wird, bis die Seele eine gewisse Weisheit erlangt hat, könnte man auch damit argumentieren, dass diese Menschen eben genau diese Erfahrungen in ihrem Leben – oder sagen wir besser in ihrem Zyklus – gebraucht haben.
