Sterben lernen ist Leben lernen – Götz Wittneben

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Kein anderes menschliches Thema bringt uns mehr auf die Spur, ein erfülltes Leben zu führen, als „Tod und Sterben“. Warum also ist es gerade dieses Thema, das seit etwa zwei Jahrhunderten derart tabuisiert wurde? Im Folgenden möchte ich ein paar wesentliche Aspekte ansprechen, die mir durch zahlreiche persönliche Erfahrungen und als Trauerredner für „Kirchenferne“ wichtig erscheinen.
Der Wunsch nach einem plötzlichen Tod
Im Mittelalter beteten die Menschen noch „Herr bewahre mich vor einem Tod in der Fremde und einem plötzlichen Tod!“ und viele nutzten ein sogenanntes „Memento Mori“, einen Gegenstand, der sie an ihre körperliche Endlichkeit erinnern sollte. Heute dagegen wünscht sich die Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft einen plötzlichen, ja unbewussten Tod. Dabei ist es eines der größten Geschenke, Zeit zum Abschiednehmen und Ordnen seines Hauses zu haben. Als sich eine meiner Schwestern anschickte, ihren Körper zu verlassen, durfte ich sie in den letzten Tagen im Hospiz begleiten. Sie nahm jeden Tag von zwei bis drei Freunden bewusst Abschied und versöhnte sich noch mit zwei ihr wichtigen Menschen, bevor sie in die „Leichtigkeit“ ging. Für alle Beteiligten war das eine tief bewegende, nachhaltige und trostreiche Erfahrung.
Wir sind nicht unser Körper
Als ich Mitte der Neunziger Jahre bei der Volkshochschule Kurse zu „Tod und Sterben“ anbot, sprachen die Teilnehmer – fast ausschließlich Frauen – häufig erstmals über außergewöhnliche Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Sterben einer ihnen nahen Person. Erstmals hörte ihnen jemand zu, ohne sie für verrückt zu erklären, wenn sie Erlebnisse schilderten, die eindeutig zeigten, dass das Wesentliche an uns nicht unser Körper, sondern unser Geist ist. Immer wieder berichteten sie von Erscheinungen der zuvor Verstorbenen, selbst wenn sie noch gar nicht wussten, dass diese ihren Körper verlassen hatten. Ein Junge, zu dem meine Schwester eine intensive Beziehung hatte, weckte in der Nacht seine Eltern, um ihnen zu sagen, dass meine Schwester in seinem Schlafzimmer gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt wussten die Eltern aber noch nicht, dass meine Schwester am Abend zuvor ihren letzten Atemzug getan hatte. Ich bin fest davon überzeugt, dass viele Menschen solche Erfahrungen gemacht haben, wie auch andere telepathische Erfahrungen, aber sich bisher noch nicht getraut haben, darüber zu sprechen. Max Planck, einer der „Väter“ der Quantenphysik, sagte einmal: „Es gibt keine Materie an sich. Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Alls zusammenhält…“. Wir sind also primär Geist, Bewusstsein, dass sich einen menschlichen Körper baut, um menschliche Erfahrungen zu machen, während wir gleichzeitig Teil eines umfassenden Bewusstseins sind, so wie alles Leben um uns auch. Wenn dieser Körper nicht mehr gebraucht wird, wird er zurückgelassen.
Das letze Hemd hat keine Taschen
Wie viele Sprichwörter enthält dieses im Kern alle menschliche Weisheit, das Leichenhemd hat eben keine Taschen. Nichts Materielles, dem wir in unserem Leben vielleicht so große Bedeutung beimessen, können wir mitnehmen, wenn wir gehen. Gesellschaftsrang, Titel oder Orden, Bankkonto oder Villa – alles null und nichtig. Und wenn wir uns umschauen: Wie viel Stress machen wir uns um Dinge, die am Ende völlig unwichtig sind, tagtäglich. Sich also zu fragen: „Würde ich dies oder das auch tun, würde ich so handeln, wenn ich wüsste, dass ich morgen ‘sterbe’?“ ist ein starkes Hilfsmittel, mir und meinen eigenen Werten auf die Spur zu kommen. Wenn wir das endgültige Verlassen des Körpers  als das Große Loslassen ansehen, können wir es bereits im Alltag üben. Schon die alten Griechen meinten, dass wir das im Schlaf bereits tun, aber die Seele noch mit dem Körper verbunden ist, darum war der Schlaf, „Hypnos“, der kleine Bruder des Todes „Thanatos“. Sich beispielsweise von alten Gegenständen zu trennen, sie zu verschenken, zu verkaufen oder einfach wegzuwerfen, ist ein Üben im Loslassen, ein Überwinden des Anhaftens. Einem anderen Menschen aufrecht zu vergeben, statt sich im Hass sogar noch mehr an ihn zu ketten, übt nicht nur im Loslassen, sondern befreit auch vom gnadenlosen Urteil über sich selbst, weil bekanntlich drei Finger auf mich selbst zeigen, wenn ich den Zeigefinger ausstrecke.
Widerstreitende Gefühle und Emotionen
Viele Hinterbliebene, die ich zu Trauergesprächen besuchte, litten unter widerstreitenden Emotionen und Gefühlen. Während Gefühle des Schmerzes und der Trauer gesellschaftlich akzeptiert sind, haben Emotionen wie Ärger und Wut keinen Raum, sind aber durchaus häufig vorhanden, gerade in Fällen eines plötzlichen, unvorhergesehenen Verlassenwerdens. Diese Emotionen  gehören zu uns und als Erwachsene sollten wir uns diese auch erlauben, wenn wir sie in der Regel schon als Kind nicht haben ausdrücken dürfen. Der Bruder eines Mannes, der einfach über Nacht ohne jegliche Vorzeichen gestorben war, konnte nach der Beerdigung nicht am Tisch mit den anderen sitzen, dafür aber sagen: „Ich habe eine Stinkwut auf meinen Bruder, dass der sich einfach so aus dem Staub gemacht und mich in diesem Haus allein gelassen hat.“ Dass Menschen sich den Ausdruck dieser Wut erlauben, ist noch sehr selten. Aber jede Wut, die wir ausdrücken statt sie herunterzuschlucken, kann keinen Schaden mehr in uns anrichten.
Jeder bestimmt den Zeitpunkt des Gehens selbst
Eines der spannendsten Phänomene im Zusammenhang des „Sterbevorgangs“ ist der Zeitpunkt des letzten Atemzugs. Es gibt Menschen, die können Monate auf die Rückkehr eines Kindes aus Übersee warten, um dann friedlich die Augen zu schließen. Andere möchten diesen letzten Schritt lieber allein gehen, so, wie sie vielleicht auch die wichtigsten Lebensentscheidungen immer allein getroffen haben. Gerade dieses Phänomen ist für viele Hinterbliebene schwer anzunehmen, schwer zu akzeptieren. „Ich war doch nur kurz einen Kaffee holen und in der Zeit ist er einfach gestorben; hätte ich doch…“. Nein, alle, die Sterbende begleiten, können bestätigen, dass diese ihren Zeitpunkt offensichtlich selbst wählen, selbst wenn sie nicht bei Bewusstsein sind. Ich habe eine Frau beerdigt, die von ihrem Lebensgefährten zwei Jahre rund um die Uhr gepflegt worden war. Als er kurz in die Küche ging, um Tee zu kochen, machte sie ihren letzten, friedlichen Atemzug in Gegenwart ihrer Tochter. Dies war ein intimes Geschenk an die Tochter, die zuvor solch große Angst vor dem Sterben hatte und dann sagen konnte: „So einfach ist das?“
Lebe jetzt! – Das Morgen gehört doch nur den Dieben
Zu einer meiner prägendsten Erfahrungen gehörte die Begegnung mit zwei schwerkranken Männern in den Fünfzigern in einer Klinik. Beide hatten sich Jahrzehnte beruflich krumm gelegt für die Hypotheken und einen bestimmten Lebensstandard und dabei kaum ihre Kinder gesehen. Sie schauten nun auf ihr Leben zurück und empfanden es als einen Scherbenhaufen, weil sie das Leben aufgeschoben hatten auf ein Später, das nun durch die Erkrankung radikal infrage gestellt war. Unser Versicherungswesen ist in vielerlei Hinsicht symptomatisch für die Irrwege unserer Gesellschaft. Dietrich Bonhoeffer sagte einmal sinngemäß: „Jemandem eine ‘Lebensversicherung’ zu verkaufen, die im Todesfalle fällig wird, ist in sich eine Lüge“. Wir wissen nicht, wann der Tag kommt, da wir unseren Körper wieder verlassen. Darum sollten wir das, was wirklich wichtig ist im Leben, nicht aufschieben. Heute mir selbst und anderen all die Irrtümer und scheinbar gemachten Fehler bedingungslos zu vergeben, heute dankbar für all das zu sein, was ich habe, statt mich auf meinen Mangel zu konzentrieren, ist die Basis für ein erfülltes Leben. Vielleicht gibt es einen Menschen, dem ich schon lange sagen wollte, wie viel er mir bedeutet. Und: unser Inneres Kind wartet schon lange auf die Worte: „Ich liebe dich, so wie du bist!“ Sagen wir es ihm also jetzt gleich.
©Götz Wittneben, Leipzig 2017

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Götz Wittneben, Jahrgang 1959, studierte Evangelische Theologie, forschte für Rupert Sheldrake im Bereich »Bewusstsein«, arbeitete 12 Jahre mit arbeitsuchenden Jugendlichen in einer Jugendwerkstatt und mehr als vier Jahre als Arbeitsvermittler in der Bundesagentur für Arbeit. Hier ist er in tausenden Gesprächen überraschenden Phänomenen auf die Spur gekommen, die weitreichende Folgen für unser Leben haben. Er ist Vater zweier erwachsener Kinder und lebt seit Herbst 2014 als freier Autor, Lebensberater und Liedermacher in Leipzig. Seit dem Herbst 2015 arbeitet er darüber hinaus als freiberuflicher Redakteur und Moderator bei Neue Horizonte.TV, Leipzig. Seine Themen vor allem: Bewusstsein, Selbstverantwortung, alternative Ansätze in der Medizin, Spiritualität und Potentialentfaltung. Seine Homepage lautet wie sein Buch: www.wenn-wir-wuessten.de

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