“Als ich in der Psychiatrie war, gab es da immer so einen uralt aussehenden Mann, der in seinem Rollstuhl meist vor dem Klinikeingang saß und einfach die Natur und den Klinikgarten betrachtete.
Ich bin meist schnell an ihm vorbei gegangen und habe ihn manchmal hastig gegrüßt mit einem „Grüß Gott“.
Als ich dann aber zum zweiten Mal sehr psychotisch war, habe ich in ihm plötzlich mehr gesehen. Da mir seine Rolle unklar war, mich aber interessierte, ging ich zu ihm hin und stellte mich vor. Er saß gerade wieder in seinem Rollstuhl vor dem Klinikeingang und antwortete, sein Name sei Wolfgang und er wäre auch Patient in dieser Psychiatrie.
Mit einem Zwinkern meinte er, dies sei wohl zu diesen Zeiten der richtige Platz für ihn, um zur Ruhe zu kommen.
Hier könne er einfach ausruhen und die Natur genießen.
Ich setzte mich neben ihn auf den Boden und redete lange mit ihm. Manchmal schwiegen wir, dann diskutierten wir wieder.
Schnell kam ich zu der Überzeugung, dass er der leibhaftige alte Gott sein müsse, wie er in der Bibel beschrieben wird.
In der Psychose ordnete ich alle möglichen Wesen ganz normalen Menschen zu.
Auch Wolfgang, dieser alte Mann, der eine beneidenswerte Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte, spielte irgendwie mit.
Er meinte, ich sei wohl seine Tochter, eines seiner vielen Kinder.
Als ich später wieder bei “klarem” (Anmerkung: was ist schon “normal”? ) Verstand war, ging ich Wolfgang ebenso wie den anderen Personen, mit denen ich während meiner Psychose gesprochen hatte, aus dem Weg und ignorierte ihn meistens oder grüßte nur kurz im Vorbeigehen.
Ich schämte mich eben. Wolfgang hat sich aber später bei einer anderen Mitpatienten, der Silke, mit der ich mich anfreundete und die ebenfalls eine religiöse Psychose hatte, nach mir erkundigt und gefragt, wo seine Tochter von Station 6, die Vera, bliebe.
Ich habe wie schon erwähnt an jenem Nachmittag sehr viel Zeit mit Wolfgang verbracht und kann mich leider nur ausschnittsweise an unser Gespräch erinnern.
Ich weiß aber noch, wie er sagte:
„Schade, dass du so oft nur an mir vorbeigegangen bist und mich nur kurz gegrüßt hast. Ich wollte schon viel früher mit dir reden.“
Ich habe ihn dann auch gefragt:
„Wird dir nicht langweilig, da du doch die ganze Zeit hier nur herumsitzt und immer nur die Natur und ihre Geschöpfe betrachtest?“
Daraufhin meinte er: „Nein, denn gerade dafür bin ich da und greife auch nicht ein, sondern beobachte einfach nur, wie alles seinen Gang geht, gedeiht und sich entwickelt.“
Da ich in diesem Moment in ihm Gott, unseren Schöpfer, sah, protestierte ich wütend:
„Du mit deinem großen Bart nuschelst so vor dich hin und lässt einfach alles geschehen. Sprich doch mal ein Machtwort und greif ein, mach was, um das Leid aus der Welt zu schaffen.“
Wolfgang lächelte aber nur und meinte mit ruhiger Stimme: „Das aber ist nicht meine Aufgabe“.
Ich fragte ihn dann, ob er nicht einen Nachfolger suchen wolle, weil er ja vielleicht schon zu alt für seine Aufgabe sei. Wolfgang daraufhin:
„Wer aber definiert diese Aufgabe?
Außerdem bin ich zwar alt, aber werde noch lange, lange hier sein.
Mach’ dir mal keine Sorgen um Dinge, die einfach so sind, wie sie sind.“
In einer anderen Angelegenheit war Wolfgang aber meiner Meinung, und zwar, dass die Menschen einen schrecklichen Fehler im Umgang mit anderen Lebewesen machten, also mit unseren Tieren und der Natur im ganz Allgemeinen.
Das anthropozentrische christliche Weltbild, das im Menschen etwas ganz Besonderes sehe und ihn über die Tiere erhebe, sei schlichtweg falsch und verursache auch sehr viel Leid.
Wir seien alle Geschöpfe Gottes, wobei ein Mensch eben nicht mehr oder weniger Wert besitze wie eine Spinne, eine Fliege oder ein Schwein.
Wolfgang hat auf alle Fälle betont, dass es ein Fehler des Menschen sei und von Hochmut zeuge, sich über die übrigen Lebewesen und die Natur zu erheben.
Dass alles eins und miteinander verwoben sei, hat Wolfgang oft betont, und das eine nicht ohne das andere existieren könne.
Wolfgang hat sich auch einen kleinen Spaß erlaubt.
Ich fragte ihn, ob ich etwas für ihn einkaufen solle, weil ich ohnehin zum Supermarkt um die Ecke wollte. Er meinte daraufhin:
„Bananen wären gut. Die haben unseren Vorfahren, den Affen, auch geschmeckt.“
Und diese Aussage kam von einem alten Gott, der laut Christentum die Menschen als höhere Lebensform und als sein Ebenbild erschaffen hatte.
Ich musste lachen, denn wenigstens hatte der Gott Wolfgang Humor.”